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09.01.2025

12 Rückenmythen auf dem Prüfstand

12 Rückenmythen auf dem Prüfstand

Die Wirbelsäule & Physiotherapie, TEIL 4

Zu keinem anderen Körperbereich existieren so viele Ideen, Vorurteile und ungünstige Überzeugungen wie für die Wirbelsäule und den Rücken. Das führt vor allem in der Beurteilung von Schmerzzuständen immer wieder zu Konfusion und zu fehlgeleiteten Empfehlungen. Aufgrund dieser verbreiteten Ideologie werden passive Maßnahmen bei Rückenschmerz immer noch bevorzugt, trotz anderer wissenschaftlicher Informationen.

Um einer aktiveren Strategie bei Rückenschmerzen den Vorrang zu geben, muss zunächst mit den gängigsten Mythen zum Thema aufgeräumt werden. Es wird Zeit, den Rücken zu entmystifizieren und einen aktiven Therapie- und Trainingsweg einzuschlagen.

Mythos 1: „Der Rücken und die Wirbelsäule sind schwach, zerbrechlich, instabil oder verletzlich“

Der menschliche Rücken ist für Bewegung, Belastung und Schutzfunktion konzipiert und gebaut. Die Wirbelsäule schützt das Rückenmark und die austretenden Nerven, verteilt über die Bandscheiben enorme Belastungen und hat in der Summe mit allen Gelenkanteilen eine riesige Beweglichkeit. Sie ist mit starken Muskeln, elastischen Gelenkkapseln und stabilen Bändern ausgestattet, um hohen Belastungen standzuhalten.

Der menschliche Rücken ist in hohem Maße anpassungsfähig und trainierbar bis ins hohe Lebensalter. Bewegung und Training sind der beste Weg, den Rücken zu stärken und zu schützen. Der Rücken ist definitiv keine Schwachstelle - es sein denn, er wird durch zu lange Schonung und dauerhaft zu wenig Belastung zu einer gemacht.

Mythos 2: „Rückenschmerzen sind ein Zeichen für Schäden oder Verletzungen“

Nicht jeder Rückenschmerz tritt aufgrund von Verletzungen oder Schäden auf und nicht jede Verletzung an der Wirbelsäule führt zu Schmerzen. Tatsächlich ist der Anteil von Gewebeschäden bei Rückenschmerz mit 10– 15 % (Anteil der spezifischen Rückenschmerzen) recht gering.

Unser Rücken ist robuster als gemeinhin angenommen wird. Solange es Menschen gibt, die mit nachweislich per MRT gefundenen Verletzungen (z.B. Bandscheibenvorfall oder Arthrose) weder Schmerzen noch andere Symptome aufweisen, sollten wir mit solchen Schlussfolgerungen mehr als vorsichtig sein. Es lassen sich nicht immer direkte Zusammenhänge zwischen einer direkten Verletzung, also einem Schaden an einem Körpergewebe, und evtl. auftretenden Symptomen herstellen. Nicht umsonst haben viele Patienten nach einer durchgeführten Rücken-OP immer noch dieselben Schmerzen.

Mythos 3: „Bei Rückenschmerzen muss man sich schonen“

Sich bei akuten Schmerzen kurzzeitig etwas zu schonen, ist durchaus legitim und clever. Jedoch kann die Schonung nicht die einzige Maßnahme sein und schon gar nicht das Ende der Strategie. Der beste Plan ist nach wie vor, sich so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu stellen und sich wieder so normal wie möglich zu bewegen. Nur durch Bewegung und gezieltes Training kann dem Rückenschmerz dauerhaft Einhalt geboten werden. Das Maß der Dinge ist dabei die Intensität und Dauer der Schmerzen. Werden die Schmerzen durch gezielte Bewegung nicht schlimmer, ist dies der beste Weg. Training = Therapie. Angepasstes und individuell durchgeführtes Training ist sicher.

Mythos 4: „Falsche Bewegungen lösen Rückenschmerzen aus“

Falsche Bewegungen gibt es nicht. Jede Bewegung, die ein Körper durchzuführen vermag, kann nicht per se falsch sein. Es gibt lediglich ungünstige Gesamtsituationen (Dosierung, Intensität, unzureichender Trainingszustand, ungünstiger Zeitpunkt etc.). Rückenschmerzen sind meist ein bio-psycho-soziales Problem und vielschichtig in der Entstehung. Ungünstige Bewegungen können ein Teil dieser Entstehung von Rückenschmerzen sein, also ein Faktor unter vielen. Jede Bewegung zählt und ist förderlich.

Mythos 5: „Falsches Sitzen verursacht Rückenschmerzen“

Auch hier gilt: Falsches Sitzen gibt es nicht. Es gibt nur Sitzen oder nicht sitzen. Wissenschaftlich lässt sich kein direkter Zusammenhang zwischen der Tätigkeit „Sitzen“ und Rückenschmerzen herstellen. Nicht jeder, der einen sitzenden Beruf oder eine überwiegend sitzende berufliche Tätigkeit ausübt, hat Rückenschmerzen. Bekanntlich macht die Dosis das Gift und andere Faktoren tragen immer ihren Teil dazu bei.

Mythos 6: „Gerades, auf - rechtes Sitzen ist besser als ,krummes‘ Sitzen“

Wurde in den 80er und 90er Jahren noch die aufrechte Sitzposition als einzig gesunde definiert und propagiert, so gilt heute, dass auch sitzend das gesunde Maß in der Variabilität liegt. Sitzen ist nicht gleich Sitzen. Ein angelehntes Sitzen fühlt sich nicht nur entlastend und angenehm wohltuend an, das ist es auch.

Auch aufrechtes Sitzen ist immer noch sitzen. Dadurch wird nur eine monotone Belastungshaltung durch eine andere ersetzt. Mittlerweile ist auch in Studien nachgewiesen, dass die Belastungen für die Wirbelsäule und ihre Bauteile im angelehnten Sitzen genauso niedrig sind wie in Rückenlage. Ausgewogenes und variantenreiches Sitzen macht die Sache deutlich erträglicher und liefert unserem Rücken willkommene Abwechslung. Die beste Sitzhaltung ist immer die nächste.

Mythos 7: „Je älter man wird, desto häufiger plagt einen der Rücken“

Erkenntnisse aus vielen Studien zeigen, dass das Problem Rückenschmerz in jedem Alter auftreten kann. Die Summe der bestehenden Risikofaktoren (Bio-psycho-sozial) bestimmt dabei die Höhe des Schmerzrisikos und auch die Intensität der Beschwerden ist eher altersunabhängig. Solange der Organismus am Leben ist, besteht eine riesige Anpassungsfähigkeit, die nur mit geeigneten Übungen und Training aktiviert werden muss. Es liegt auch hier bei jedem selbst, nachhaltig für die eigene Gesundheit aktiv zu werden. Dazu müssen nur gute Entscheidungen für Bewegung und damit für mehr Gesundheit getroffen werden.

Mythos 8: „Bandscheiben können platzen“

Bandscheiben „platzen“ nicht. An den Bandscheiben kann es zu Verletzungen (Risse im Faserring, Austritt von Kerngewebe) oder zu einer Reduktion des Volumens aufgrund von Elastizitäts- und Flüssigkeitsverlust kommen. Die meisten Bandscheibenverletzungen (auch Vorfälle) kann unser Körper innerhalb eines Jahres wieder regenerieren. Rückenschmerzen aufgrund von Bandscheibenveränderungen verschwinden bei bis zu 80 % der Betroffenen in den ersten 6 – 8 Wochen nach Entstehung – egal was sie machen. 80 % der Bandscheibenoperationen sind klinisch nicht erforderlich.

Mythos 9: „Nach einem Bandscheibenschaden muss man sich schonen“

Etwa 80 % der Bandscheibenschäden regenerieren sich innerhalb von 6 bis 8 Wochen. Bei 60– 70 % dieser Bandscheibenschäden ist nach einem Jahr auch in der Bildgebung (MRT, CT) nichts mehr davon zu sehen. Bandscheiben ernähren sich durch Diffusion, also den Austausch von Stoffen durch den Wechsel von Druck und Zug. Es ist wichtig, den Körper mit den für eine optimale Regeneration erforderlichen Bewegungsreizen zu versorgen. Nur so kann das Immunsystem optimal arbeiten und die Störung beseitigen. Auch hier gilt dasselbe, wie für Rückenschmerzen im Allgemeinen. Bewegung bzw. Training ist das Mittel der Wahl.

Mythos 10: „Einrenken ist eine effektive Behandlung bei Rückenschmerzen“

Da Wirbel nicht „ausrenken“, ist auch ein „Einrenken“ nicht notwendig. Wirbel verrutschen nicht. Nur durch extreme äußere Kräfte (Motorradunfall) kommt es dazu. Chirotherapeutische Maßnahmen (ugs.: Einrenken) sind in den seltensten Fällen erforderlich. Während die Effekte des "Einrenkens" lediglich von kurzer Dauer sind, entfalten Training und gezielte Übungen ihre Wirkung deutlich nachhaltiger und andauernd. Zudem sind sie weniger risikobehaftet als „Einrenkmaßnahmen“.

Mythos 11: „Ein Röntgenbild/ CT/ MRT gibt bei Rückenschmerzen Klarheit“

Da bei den meisten Rückenbeschwerden keine direkte Ursache (80– 90 % unspezifische Rückenschmerzen: NSLBP) gefunden werden kann, sind auch häufig die bildgebenden diagnostischen Verfahren nicht wirklich hilfreich. In den meisten Fällen sind diese sogar unnötig und tragen eher zur weiteren Verwirrung von Patienten oder schlimmer, zur Chronifizierung der Beschwerden bei. Bildgebende Diagnostik sollte nur angewandt werden, wenn bereits weitere Symptome für eine ernsthafte Erkrankung bestehen.

Mythos 12: „Krafttraining/ Rückentraining ist nicht gut bei bestehenden Rückenschmerzen“

Durch gezieltes Krafttraining und ein individuelles Übungsprogramm wird der Organismus mit wichtigen Reizen zur Anpassung und Schmerzreduktion versorgt. Wenn Rückenschmerzen bestehen, ist das ein deutliches Zeichen, dass der Körper (insbesondere der Rücken) mit der Gesamtsituation unzufrieden ist. Wenn sie diese Schmerzen wieder loswerden wollen, muss sich etwas verändern. Ein gangbarer Weg, den Körper nachhaltig zu verändern, besteht in einem regelmäßigen Training. Training und Bewegung sind mitunter die besten Möglichkeiten, einem bestehenden Rückenschmerz effektiv zu begegnen. Übertriebene Angst und davon geprägte übersteigerte Vorsicht sind in keinster Weise nützlich oder hilfreich.

Kay Bartrow

 


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