Therapie

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02.12.2024

Vorwölbung und Vorfall

Vorwölbung und Vorfall

Die Wirbelsäule & Physiotherapie, TEIL 3

An den Bandscheiben treten vielfältige Veränderungen auf, die in erster Linie Form und Funktionsfähigkeit betreffen. Diese kommen häufig in Form von Höhenminderungen aufgrund stärkerer Druckbelastungen, kleinen Rissen im Faserring, Bandscheibenvorwölbungen oder gar eines Bandscheibenvorfalls vor und sind tatsächlich die großen Schreckgespenster vieler Menschen, die von Rückenschmerzen geplagt sind.

Dabei sind echte Bandscheibenvorfälle gar nicht mal so häufig: bei den etwa 26 Millionen in Deutschland behandelten Rückenschmerz Fällen pro Jahr – immerhin etwa ein Drittel der Bevölkerung – sind lediglich ca. 180 000 Bandscheibenvorfälle enthalten. Für alle an Rückenschmerz Leidenden ist dies sicherlich erst einmal eine gute Nachricht. Bandscheibenstörungen sind tatsächlich nicht sehr häufig. Etwa 85 % aller Rückenschmerzen sind sogenannte „unspezifische“ Rückenschmerzen, bei denen die Ursache nicht genau erkennbar ist.

Die Funktion der Bandscheiben

Eine Bandscheibe besteht aus einem Faserring, der in mehreren Schichten um den innen gelagerten Gallertkern „gewickelt“ ist. Bandscheiben sind eigentlich kleine Pufferkissen zwischen den Wirbelkörpern. Sie bestehen etwa zu 85 % aus Wasser, das durch spezielle Verbindungen mit Hyaluronsäure, Glukosaminoglykanen und Lubricin zusammengehalten wird. So wird ein Wasserkissen gebildet, das besondere Fähigkeiten hat, um als beweglicher Stoßdämpfer alle Bewegungen der Wirbelsäule bestmöglich zu unterstützen.

Je mehr Flüssigkeit eine Bandscheibe in sich aufnehmen kann und je besser die Qualität der gespeicherten Flüssigkeit, desto besser sind die Fähigkeiten der Bandscheiben.

Altersbedingte Veränderungen

Mit zunehmendem Lebensalter reduziert sich bei den Bandscheiben die Fähigkeit, Wasser aufzunehmen und zu speichern. Sie verändern daraufhin ihre Form und verlieren etwas an Höhe.

Diese Veränderungen sind jedoch erst einmal völlig normal. So normal wie graue Haare und Falten im Gesicht. Auch die Konzentration von Glukosaminoglykanen, Lubricin und anderen Stoffen trägt zu dieser Wassersättigung bei. Verändern sich die Konzentrationen der einzelnen Bestandteile, hat das auch wieder Einflüsse auf den Stoffwechsel, die Regenerationsfähigkeit und damit auch auf die Funktionsfähigkeit der Bandscheiben.

Mittlerweile konnte in vielen Studien nachgewiesen werden, dass die häufigsten Veränderungen an den Bandscheiben tatsächlich nicht mit klinischen Symptomen wie Schmerz oder Bewegungssteifigkeit einhergehen müssen. Erkennbar ist diese Unstimmigkeit auch daran, dass diese Veränderungen auch bei komplett symptomfreien Menschen in der Bildgebung zu finden sind.

70 % alle Bandscheibenvorfälle verheilen innerhalb eines Jahres

Zudem bleiben bei etwa 40 % der operierten Bandscheibenpatienten die Symptome nach einer chirurgisch operativen Versorgung weiterhin bestehen. Daher liegt der Schluss nahe, dass die operierten Bandscheiben nicht die Ursache für die vorher bestehenden Beschwerden waren. Was ebenfalls noch wichtig zu wissen ist: etwa 70 % aller Bandscheibenvorfälle bilden sich innerhalb eines Jahres wieder nahezu vollständig zurück. D.h., wenn ein Jahr nach einem Bandscheibenvorfall ein erneutes MRT zur Kontrolle gemacht wird, ist in den meisten Fällen vom ehemaligen Bandscheibenvorfall nichts mehr zu sehen. Der Organismus resorbiert mit der Zeit das verletzte Gewebe, bis nichts mehr zu sehen ist.

"Ebbe & Flut"

Bandscheiben werden durch den Wechsel von Druck und Zug (Entlastung) mit Nähr- und Baustoffen versorgt. Diesen Vorgang nennt man Diffusion. Ohne dieses Wechselspiel fehlen die physiologischen Reize, der Stoffwechsel der Bandscheiben wird träge und Bandscheibengewebe verliert Elastizität. Bei unseren Bandscheiben gibt es so etwas wie „Ebbe & Flut“. Nachts erfahren die Bandscheiben eine Entlastungsphase und können sich, ähnlich einem Schwamm, mit Flüssigkeit und Nährstoffen voll - saugen. So gewinnen Bandscheiben tatsächlich an Höhe. Über einen bewegten Tag geben Bandscheiben in den Belastungsphasen (langes Sitzen, Sport, Gartenarbeit, häufiges Bücken etc.) diese Flüssigkeit wieder ab und reduzieren damit auch ihre Höhe. Menschen sind morgens 1-2 cm größer, als abends.

Wichtig: Bewegung und Belastung

Bewegung und Belastung sind also essentiell wichtig für gesunde, elastische und gut hydrierte Bandscheiben. Ein reduziertes Bewegungsverhalten (Schonung = Bewegungsverarmung) ist das Schlechteste, das wir unseren Bandscheiben antun können.

Manchmal wird Rückenpatienten eine unnötige Ruhigstellungen empfohlen, um die Bandscheiben vermeintlich zu schützen. Nicht selten wird auch ganz konkret von bestimmten Sportarten abgeraten, mit dem fahrlässigen Hinweis: „Das können Sie mit ihren Bandscheiben nicht mehr machen!“. Studien belegen mittlerweile recht deutlich, dass z.B. die Bandscheiben von Läufern eine bessere Wasserbindungsfähigkeit aufweisen als bei Nichtläufern. Auch zeigen Bandscheiben von Läufern im Vergleich zu Nichtläufern geringere Degenerationen bei bildgebenden Untersuchungen. Dieselben Effekte konnten auch bei Radfahrern, Ruderern und sogar bei Gewichthebern beobachtet werden.

(Zu) lange Ruhigstellung ist eher kontraproduktiv

Intensive Belastungen werden bei Muskelverletzungen eher toleriert, während allgemein bei Knochen- oder Bandscheibenveränderungen vom Gegenteil ausgegangen wird und von Belastung sogar direkt abgeraten wird. Dabei sollte sich die aktuelle Studienlage hierzu inzwischen herumgesprochen haben. Die besagt eindeutig, dass der Stoffwechsel von Bandscheibengewebe, genauso wie der von Knochengewebe, in der Regeneration auf wechselnde Belastungen angewiesen ist. Auch eine angepasste Steigerung der Belastung ist in Regenerationszeiten zu empfehlen, um die Therapieergebnisse zu steigern und anhaltender zu gestalten.

Eine zu lange ausgerichtete Ruhigstellung ist eher kontraproduktiv und bringt Steifigkeiten, Elastizitätsverlust, eine höhere Entzündungsneigung und eine nicht unerhebliche Gefahr für einen chronifizierten Verlauf, durch die Befeuerung von passiven Copingstrategien, begünstigen einer Kinesiophobie und ungünstigen Überzeugungen. Mit Ruhigstellung züchtet man chronisch kranke Menschen.

Positive Effekte durch angepasstes Belastungstraining

Grundlagenstudien bestätigen eine Förderung von regenerativen Prozessen in Bandscheiben, wenn mit einem progressiv dynamischen Belastungstraining gearbeitet wird. Am effektivsten haben sich dabei die Gestaltung der Belastungsparameter mit geringer Frequenz und geringem Umfang, allerdings bei hoher Intensität, gezeigt. Um die Regenerationsprozesse zu unterstützen, empfehlen medizinische Leitlinien eine wissenschaftlich gestützte Vorgehensweise für die Therapie.

Bei symptomhaften Bandscheibenveränderungen sind aktive Maßnahmen wie Mobilisation, Krafttraining, sensomotorisches Strategietraining zur Belastungskontrolle oder Ausdauertraining eine sogenannte „First Line“ Empfehlung. Der aktuelle Stand zeigt jedoch: keine Trainingsform ist überlegen. Als wichtigstes Kontrollmaß gilt die individuelle Reaktion der Betroffenen auf die Intervention.

Die wichtigsten Messages auf einen Blick

1. Zu lange Bettruhen vermeiden

Die ersten 1– 2 Tage, wenn der Schmerz noch sehr akut ist, kann ein wenig geschont werden. Danach sollte so schnell wie möglich mit Aktivität und Bewegung begonnen werden. Studien dazu zeigen: je länger geschont wird, desto ungünstiger entwickelt sich die körperliche Leistungsfähigkeit in Bezug zu Rückkehr zur Arbeit, Sport und Freizeitgenuss. Der Rücken und seine Bandscheiben passen sich einem kontinuierlichen Training an und werden belastbarer.

2. Schmerz ist nicht schlecht

Schmerz bei Bewegung und Training ist erst einmal völlig normal. Dabei zeigt ein auftretender Schmerz primär nur, wie sensibel der Rücken geworden ist und nicht, wie stark er geschädigt ist.

3. Nachhaltige Linderung und Besserung nur durch Bewegung, Training und Wissen

Die gewünschte Entwicklung geht dabei vom therapiebedürftigen Menschen (im Akutstadium) zum bewegungs- und trainingswilligen Mensch (wenn die Beschwerden wieder kontrolliert sind).

4. Die beste Übung gegen Rückenschmerz

Die absolut beste Übung gegen Rückenschmerz ist immer die, die auch tatsächlich gemacht wird. Es gibt keine falschen Übungen!

Kay Bartrow

 

Bild: ©shutterstock.com_2316777459


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