Therapie

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30.11.2020

Tragende gesellschaftliche Rolle für Physiotherapeuten und Sportwissenschaftler

Tragende gesellschaftliche Rolle für Physiotherapeuten und Sportwissenschaftler

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Das Thema Bewegungsmangel unter dem Gesichtspunkt der Public Heath für Physiotherapeuten, das hat uns interessiert...

Risikofaktor: Bewegungsmangel

Professor Dr. habil. Michael Tiemann, Sport- und Sozialwissenschaftler, lehrt im Studiengang Physiotherapie an der SRH Hochschule für Gesundheit, Campus Leverkusen. Er hat im Springer Reference Werk Prävention und Gesundheitsförderung aktuell das Thema Bewegungsmangel aufgegriffen. Hierin führte er unter anderem aus, wie dringend körperliche Aktivität für die öffentliche Gesundheit ist, um auch die Kosten im Gesundheitswesen nicht zu sehr aus dem Ruder laufen zu lassen.

Das Thema Bewegungsmangel unter dem Gesichtspunkt der Public Heath für Physiotherapeuten, das hat uns interessiert. Professor Michael Tiemann hat sich unseren Fragen angenommen. Das Interview führten wir aufgrund der Corona-Einschränkungen schriftlich.
TT-DIGI: Sehr geehrter Herr Professor Tiemann, in Ihrem Beitrag greifen Sie auf, wie notwendig Bewegung, körperliche Aktivität für die öffentliche Gesundheit, für Public Health ist. Nicht nur für die individuelle Gesundheit. Gleichzeitig lehren Sie Studierende der Physiotherapie in Leverkusen. Wie beeinflusst das Ihre Lehre der Studierenden? Dieser Gesamtblick auf das System, nicht auf die einzelne Indikation?
Prof. Michael Tiemann: Die Weitergabe des aktuellen Wissens zu Bedeutung und Folgen von Bewegungsmangel sowie entsprechenden Interventionsmöglichkeiten zieht sich wie ein „Roter Faden“ durch viele meiner Lehrveranstaltungen. Einen Schwerpunkt bilden dabei bevölkerungsbezogene Maßnahmen zur Bewegungsförderung, d.h. Interventionen aus einer individuum- und indikationsübergreifenden Public Health-Perspektive.
TT-DIGI: Stichwort: Public Health. Wie können Physiotherapeuten auf dieses System einwirken?
Prof. Michael Tiemann: Nach meiner Auffassung können und sollten Physiotherapeuten neben vielen anderen Institutionen und Akteuren einen wichtigen Part übernehmen. Ähnlich wie Ärzte erreichen Physiotherapeuten in ihrer Praxis jeden Tag viele Patienten, die sie über die ­positiven Wirkungen regelmäßiger körperlicher Aktivität – im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung und auch darüber hinaus – informieren können. Des Weiteren können Physiotherapeuten in ihrer Praxis oder im Rahmen von Kooperationen z.B. auch in Schulen und Betrieben entsprechende Bewegungsprogramme durchführen.
TT-DIGI: Welche Maßnahmen können Ihrer Meinung nach vor allem schon heute in der Physiotherapie getroffen werden, um die wirtschaftlichen Kosten unseres Gesundheitssystems angesichts zunehmender mangelnder körperlicher Aktivität in den Griff zu bekommen?
Prof. Michael Tiemann: Nach einem Bericht der International Sport and Culture Association (ISCA) verursacht mangelnde körperliche Aktivität in Deutschland jährlich geschätzte Kosten in Höhe von 14,5 Milliarden Euro. Wenn es gelingen würde, mehr Menschen in Bewegung zu bringen, könnte ein großer Teil dieser Kosten eingespart werden. Diesem Bericht zufolge könnten durch eine Reduzierung der Quote der inaktiven Personen um 20 Prozent, beispielsweise die Behandlungskosten von Diabetes-mellitus-Typ-2 um 213 Millionen Euro jährlich gesenkt werden! Meiner Meinung nach könnte das große gesundheitsförderliche Potenzial körperlicher Aktivität im Bereich der Physiotherapie sowohl in der Therapie und Rehabilitation als auch in Form vermehrter präventiver Bewegungsangebote noch konsequenter und systematischer genutzt werden.
TT-DIGI: Im Selbstzahlerbereich werden in Praxen Möglichkeiten angeboten, über das Rezept hinaus körperlich aktiv zu bleiben. Welchen Vorteil sehen Sie im Praxisangebot – in Abgrenzung zu Fitness-Studios?
Prof. Michael Tiemann: Ein großer Vorteil von Physiotherapie-Praxen gegenüber Fitness-Studios besteht darin, dass die Patienten zur Therapie dorthin kommen, also „schon da“ sind, und dann über den Nutzen körperlicher Aktivität und Präventions- bzw. Gesundheitsförderungsangebote der Praxis informiert werden können. Es ist sehr viel leichter, Personen über diesen Weg als „ganz neu“ für eine Teilnahme an Präventionsangeboten zu gewinnen.
TT-DIGI: Betreiber von physiotherapeutischen Praxen stellen oft für ihre Selbstzahlerbereiche Sportwissenschaftler ein. Sehen Sie hier eine interdisziplinäre Zukunft oder eine Verwässerung physiotherapeutischer Praxen?
Prof. Michael Tiemann: Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sich etwa drei Viertel der Erwachsenen sowie Kinder und Jugendlichen in Deutschland zu wenig bewegen, wird schnell klar, vor welch großer Aufgabe wir stehen. Um das Problem des Bewegungsmangels einigermaßen in den Griff zu bekommen, bedarf es großer gemeinsamer Anstrengungen und der Mitwirkung vieler Institutionen und Akteure. Physiotherapeuten und Sportwissenschaftler können und sollten dabei m.E. eine tragende Rolle übernehmen. Beide Berufsgruppen können im Bereich der Bewegungsförderung hervorragend zusammenarbeiten, wie dies ja auch schon in vielen Reha-Kliniken der Fall ist. Die vermehrte Durchführung präventiver bzw. gesundheitsfördernder Maßnahmen stellt aus meiner Sicht eine notwendige Erweiterung und keinesfalls eine Verwässerung des Leistungsspektrums physiotherapeutischer Praxen dar.
TT-DIGI: Wie kann ein Physiotherapeut oder ein Sportwissenschaftler Menschen zur körperlichen Aktivität motivieren?
Prof. Michael Tiemann: Um dem Problem des Bewegungsmangels wirksam zu begegnen, kommt es entscheidend darauf an, Menschen, die bislang wenig aktiv waren und häufig auch große Vorbehalte gegenüber körperlicher Aktivität haben („Das ist nichts für mich“), für Bewegung zu begeistern und ihnen den Zugang zu entsprechenden Maßnahmen zu erleichtern. Als besonders Erfolg versprechend gelten bewegungsbezogene Interventionen nach dem Setting- bzw. lebensweltorientierten Ansatz, bei denen die Bewegungsangebote dort durchgeführt werden, wo sich die Menschen bereits befinden, also z.B. in der Schule, im Betrieb oder im Altenheim. Für Physiotherapeuten bedeutet dies, entsprechende Bewegungsangebote nicht nur in ihrer Praxis, sondern im Rahmen von Kooperationen auch in anderen Settings durchzuführen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Möglichkeiten, Menschen zu motivieren und auf ihrem Weg von der Inaktivität zur Aktivität zu unterstützen.
TT-DIGI: Welcher Schritt ist dann zur Umsetzung nötig?
Prof. Michael Tiemann: Wie wir heute wissen, reicht der Vorsatz sich mehr zu bewegen alleine nicht aus. Wichtig ist, mit den betreffenden Personen individuelle Handlungspläne zur konkreten Umsetzung ihres Vorhabens zu entwickeln. Wichtige Fragen in diesem Zusammenhang sind zum Beispiel: Was möchte ich wann, wo, mit wem, wie oft und wie lange tun? Und welche Materialien bzw. Ausrüstung benötige ich dafür? Große Bedeutung kommt auch der Entwicklung von Strategien zum Umgang mit Hindernissen zu, die der geplanten Verhaltensänderung entgegenstehen können. Deshalb sollte möglichst frühzeitig antizipiert werden, wie möglicherweise auftretende Barrieren effektiv bewältigt werden können.
Da Maßnahmen zur Bewegungsförderung nur erfolgreich sind, wenn diese von den Menschen auch umgesetzt werden, spielt die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen zur Verhaltensänderung auch in meinen Lehrveranstaltungen für die Studierenden eine große Rolle.
TT-DIGI: Wie stellen Sie sich die Zukunft in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung vor?
Prof. Michael Tiemann: Da niemand in die Zukunft schauen kann, ist diese Frage natürlich schwierig zu beantworten. In Bezug auf die Gesundheitssituation ist aber mit großer Sicherheit davon auszugehen, dass die demografische Alterung der Bevölkerung im Laufe der nächsten Jahre zu einer weiteren Zunahme von chronisch-degenerativen Erkrankungen und Multimorbidität führen wird. Da die meisten dieser Erkrankungen im Zusammenhang mit mangelnder körperlicher Aktivität stehen, werden gezielte Maßnahmen zur Bewegungsförderung in der gesundheitlichen Versorgung weiter an Bedeutung gewinnen. Als Bewegungsfachleute werden Physiotherapeuten und Sportwissenschaftler dabei besonders gefordert und gefragt sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Reinhild Karasek.


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