
Therapie
09.03.2023
Schmerzen neu(ro) gedacht

Schmerzreduktion aus neurozentrierter Sicht
In der Trainings- und Therapiewelt existieren einige Missverständnisse in Bezug auf Schmerz und Schmerzentstehung. Dabei kann ein falsches Verständnis Schmerzen verschlimmern oder gar erst entstehen lassen. Für Trainer und Therapeuten ist es entscheidend zu verstehen, was Schmerz bedeutet sowie wie und wo er entsteht. Andreas Könings gibt einen Überblick.
Um die Hintergründe zu verstehen, dürfen wir uns unserem Gehirn zuwenden, denn allein und ausnahmslos unser Gehirn entscheidet, ob wir Schmerzen empfinden oder nicht.
Jeder war schon einmal von Schmerzen betroffen, wobei es ganz unterschiedliche Arten von Schmerzen gibt. Eine Wunde tut weh, wenn wir uns geschnitten haben. Das Knie schmerzt nach einem langen Spaziergang. Wir bekommen Kopfschmerzen von langer PC-Arbeit oder Bauchweh, wenn wir gestresst sind. Schmerzen sind etwas Unangenehmes und ein Warnsignal des Gehirns. Aber warum warnt unser Gehirn?
Informationsverarbeitung im Gehirn
Das Gehirn arbeitet nach einem einfachen Schema. Unser Nervensystem nimmt Informationen aus der Umwelt auf. Das Gehirn verarbeitet diese Informationen und interpretiert sie. Erst nach dieser Einschätzung erfolgt eine Reaktion. Zusätzlich stellt sich das Gehirn permanent folgende Frage: Ist es sicher?
Empfindet unser Nervensystem eingehende Informationen als negativ bzw. bedrohlich, erhöht dies die Unsicherheit im Gehirn und unser Körper reagiert mit einem Schutzmechanismus. Zu diesem Schutz zählt z.B. die Einschränkung von Kraft und Beweglichkeit, eine Erhöhung der muskulären Spannung und in letzter Instanz auch Schmerzen.
Schmerz entsteht im Gehirn
Schmerzen entstehen somit nicht im Körper, sondern sind eine Reaktion unseres Gehirns auf die Informationsaufnahme, -verarbeitung und Interpretation. Sie entstehen in unserem Gehirn, und zwar nur dort. Alleine unser Kopf entscheidet, ob Schmerzen empfunden werden oder nicht, und auch, wo diese empfunden werden.
Schmerz entsteht nicht in Gelenken oder Geweben, denn im Körper befinden sich keine „Schmerzrezeptoren“. In unserem Körper kommen viele verschiedene Rezeptoren für unterschiedliche Zustände vor: Druck, Temperatur, chemische Veränderungen, u.a. Es gibt auch einen Rezeptor für Nozizeption. Diese Rezeptoren melden starke Veränderungen im Gewebe, aber nicht zwangsläufig Schmerz. Diese Meldung gelangt über unsere Nerven sowie das Rückenmark zum Gehirn.
Unser Kopf gleicht die „Gefahrenmeldung“ mit anderen Informationen ab und reagiert. Schätzt unser Gehirn die Information als ernstzunehmende Gefahr ein, ist Schmerz eine mögliche Reaktion darauf. Einen speziellen Rezeptor, welcher für Schmerzen zuständig ist oder diese erzeugt, gibt es jedoch nicht.
Schmerzen sind vielmehr als „Ausgangssignal“ unseres Gehirns zu verstehen. In letzter Instanz entscheidet unser Nervensystem darüber, wie viel und ob wir überhaupt Schmerz verspüren. Die Schmerzwahrnehmung steigt auch nicht mit der Größe der Verletzung, sondern ist immer situationsbedingt, das Schmerzempfinden sehr individuell. In Extremsituationen z. B. lässt unser Gehirn trotz schwerster Verletzungen schlichtweg keine Schmerzen zu.
Schmerzen gehen nicht zwangsläufig mit einer Verletzung einher
Das Beispiel der Kopf- und Bauchschmerzen zeigt, dass für eine Schmerzwahrnehmung nicht zwangsläufig eine Gewebeschädigung vorliegen muss. Schmerzen entstehen nicht immer da, wo ein Problem besteht. Diese Sichtweise würde Schmerz als Eingangssignal definieren, was wie beschrieben nicht richtig ist. Die Ursache kann eine völlig andere sein.
Schmerzen sind lediglich ein Signal unseres Gehirns und entstehen, wenn unser Gehirn der Meinung ist, dass wir uns in „Gefahr“ befinden. Es versucht, durch Schmerzen unsere Handlungen zu beeinflussen, um eventuelle Schäden zu vermeiden oder zu reduzieren. Schmerzen haben daher eine sehr wichtige Aufgabe in unserem Körper und es ist gut, dass wir sie empfinden können. Sie sind nicht per se schlecht.
Da unser Gehirn einzig und allein an unserem Überleben interessiert ist, beurteilt es jede Situation danach, ob sie potenziell gefährlich ist oder nicht. Diese Beurteilung geht nicht zwangsläufig mit einer Verletzung einher. Um schmerzfrei zu sein, braucht das Gehirn ein Gefühl der Sicherheit.
Schlussendlich spielen bei jeder Schmerzerfahrung viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle, aber ob etwas schmerzt oder nicht, entscheidet allein unser Gehirn.
No pain, no gain?
Haben wir als Trainer und Therapeuten diesen Sachverhalt verstanden, so wird klar, dass der Trainingsspruch „no pain, no gain“ definitiv falsch ist. Es ist weder im Training noch in einer Behandlung sinnvoll Schmerzen zu verspüren. Wann immer wir beim Training Schmerz spüren, so empfindet unser Gehirn eine Gefahr und fordert uns auf, unsere Handlung zu verändern.
Ignorieren wir diese Aufforderung beharrlich, wird sich unser Gehirn etwas Anderes, Neues einfallen lassen, um unser Verhalten zu ändern. Dies kann sich zum Beispiel durch Leistungsabfall äußern oder sich verschlimmernde oder verlagernde Schmerzen.
Vergleichbares gilt für eine Therapiebehandlung. Hier wird häufig von Erstverschlimmerung gesprochen, die jedoch nicht vorkommen sollte. Eine Erstverschlimmerung ist ein Hinweis darauf, dass die Behandlung nicht das richtige Mittel der Wahl für diese Situation ist, da unser Kopf sie nicht als sicher empfindet. Schmerzen sind nach einer guten Behandlung besser oder sogar weg. Nie schlimmer.
In einem ähnlichen Zusammenhang ist auch das Training/die Therapie von schmerzenden bzw. „verletzten“ Gelenken oder Strukturen zu sehen. Häufig wird nach folgendem Schema verfahren: Bei Nackenschmerzen muss der Nacken behandelt werden oder eventuell noch die benachbarten Gelenke wie HWS und BWS.
Die Perspektive erweitern
Aus neurozentrierter Sicht ist dies nicht immer die optimale Lösung. Es ist wichtig, auch andere Aspekte und Wege in Betracht zu ziehen, damit unser Gehirn weniger Gefahr verspürt. Die Nackenschmerzen könnten beispielsweise durch eine mögliche Beeinträchtigung des visuellen Systems hervorgerufen werden.
Für eine optimale und dauerhafte Schmerzreduktion sollten Trainer und Therapeuten vielmehr Input orientiert arbeiten, wie es in der Neuroathletik der Fall ist. Neurozentriertes Arbeiten zielt darauf ab, dem Nervensystem positive Informationen zu geben und damit das Sicherheitsempfinden im Gehirn zu erhöhen. Als Konsequenz kommt es zu einer Optimierung des Outputs, was wiederum weniger Schmerzen bedeutet. Dies ist sowohl in Training als auch für Therapie umsetzbar.
Der hier beschriebene neurozentrierte Ansatz erklärt auch, warum manche Schmerzbehandlungen teilweise nicht den gewünschten Erfolg mit sich bringen. Durch ein „falsches“ Schmerzverständnis, das Schmerz nicht als Handlungsaufforderung des Gehirns sieht, kann es sogar sein, dass in manchen Fällen der Schmerz verschlimmert wird oder er gar erst entsteht.
Für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung ist es daher ein richtiges Verständnis von Schmerzen wichtig und es ist unerlässlich das Gehirn mit einzubeziehen.
Andreas Könings
Literatur
- 1. Ulla Schmid-Fetzer, Lars Lienhard 2018. Neuroathletiktraining - Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. München: Pflaum Verlag.
- 2. David Butler, Lorimer Mosely 2016. Schmerzen verstehen. 3. Auflage. Berlin: Springer Verlag.
- 3. David Butler, Lorimer Mosely 2017. Explain Pain Supercharged. Süd Australien: NOI Group
Bild 2: ©drubig-foto_fotolia.com
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