Therapie

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30.06.2022

Die Chance digitaler Therapie

Die Chance digitaler Therapie

Patienten aktiver machen

Videos zeigen Übungen, damit Patienten motiviert werden und motiviert bleiben, um ihren Genesungsprozess außerhalb der Behandlungen in der physiotherapeutischen Praxis selbst in die Hand zu nehmen. Das erfordert Technik, aber auch manches Umdenken.

Die Chance der Digitalisierung in der Therapiebranche beurteilt Dr. Clemens-Walter Janssen, Geschäftsführer von Physiotec in Deutschland, durchaus positiv – und nicht nur zur Erleichterung der therapeutischen Arbeit. Der gelernte Physiotherapeut hat auch den Patienten im Blick. Aufgrund seines Studiums in Psychologie und anschließender Promotion in Familien- und Verbraucherwissenschaften kennt der 42-Jährige die Patientenseite als Verbraucherseite sowie die Therapeutenseite. In den USA, wo Dr. Janssen lebt und arbeitet, lernte er Physiotec, die Software eines kanadischen Unternehmens, kennen.

Das Programm gibt es seit 25 Jahren in über 15 Ländern. Der Physiotherapeut war von der Übungsbibliothek so begeistert, dass er sie und die Benutzeroberfläche ins Deutsche übertrug. Erstmals auf der TheraPro Essen 2019 vorgestellt, fiel der endgültige Startschuss 2020 auf der TheraPro Stuttgart. TT-DIGI sprach mit Dr. Clemens-Walter Janssen über die digitale Entwicklung in der Branche.

TT-DIGI: Was ist Physiotec kurzgefasst?

Dr. Clemens-Walter Janssen: Für Therapeuten ist Physiotec eine Software, um individuelle Übungsprogramme zu erstellen und Fortschritte im Heimtraining zu verfolgen. Für Patienten ist Physiotec das maßgeschneiderte Heimtraining, zusammengestellt von der Therapeutin des Vertrauens. Die Übungsdatenbank beinhaltet mittlerweile 23.841 Übungsvideos und es kommen regelmäßig neue hinzu.

Also therapeutische Hausaufgaben in digitaler Form?

Genau. Jemand, der keine digitale Möglichkeit hat, kann sich die Übungen aber auch ausdrucken lassen. In der Regel wird das Übungsprogramm per SMS oder per E-Mail versandt. Auch die Papierversion weist immer auf die digitale Version hin, weil die Übungsvideos sehr wichtig sind, um Patienten die korrekte Ausführung mitzugeben.

Wie kann eine Übung digital kontrolliert werden?

Ich denke, es ist sehr wichtig, die Übungen zu kontrollieren, nicht um die Compliance zu überprüfen, sondern um Rückmeldung zur Qualität der Übungsausführung zu erhalten. Wir haben einen Tracker in unserer Software, mit dem ein Patient verschiedene Items angeben kann. Dazu zählen die Angaben etwa zum Schwierigkeitsgrad und zu seinem Befinden während der Übung und ob er die Übung absolviert hat. In dieses Tracking haben sowohl Patienten als auch Therapeuten Einblick. Sie sehen, ob eine Übung vielleicht angepasst oder eine Alternative gesucht werden sollte.

Wie ist die digitale Entwicklung in der Therapiebranche generell zu beurteilen?

Wir sehen doch schon heute, dass durchaus steigende Bedürfnisse seitens der Patienten bestehen, digital betreut zu werden. Genau jetzt geht es darum, die Therapeutenansprüche zu fundierten, digitalen, Anwendungen zu transformieren. Beiden Seiten können es schaffen, sich digital zu komitten, wenn uns die richtige Softwarelösung dabei hilft. Als Konsumenten, als Verbraucher haben wir uns alle schon seit vielen Jahren an die Digitalisierung gewöhnt. Wir gehen nicht mehr zur Bank, um dort einen Überweisungsschein auszufüllen. Wir machen das digital. Und diese Erwartungshaltung, die ich als Konsument habe, wird sich zwangsläufig im medizinischen Bereich widerspiegeln. Es ist heutzutage wichtig, einem Patienten die Zusammenarbeit so einfach wie möglich zu machen.

Was verlangt die Teletherapie Neues vom Therapeuten?

Ich sehe extrem viele Möglichkeiten in der Teletherapie, aber es erfordert natürlich auch mehr Schulung und mehr Wissen. Eine Teletherapie auszuführen ist anders als einen Patienten in der Praxis zu sehen. In gewisser Weise müssen wir Therapeuten z.B. auch zu Regisseuren und zu Kameratechnikern werden. Aber ich brauche erst einmal eine Grundvoraussetzung: eine schnelle Internetverbindung in der Praxis. Oftmals ist das schon die erste Hürde. Dann brauche ich eine gute Kameratechnik, einen guten Bildschirm und ich brauche Platz.

Es gibt sehr viel, was wir noch lernen müssen. Für uns selber, wenn wir Teletherapie durchführen und auch, wie wir Patienten anleiten, um während der Teletherapie die Übungen richtig umzusetzen, die wir empfehlen. Wir sind gerade dabei, Unterrichtsblöcke in eLearnings bzw. Online-Weiterbildungsmaßnahmen zusammenzustellen, in denen wir Hilfestellung geben, um Teletherapie effektiv umsetzen und ausführen zu können mit Leuten, die sich bereits sehr früh mit dem Thema beschäftigt haben – Experten mit wissenschaftlichem, aber auch filmischem Background.

Das ist der Wandel auf der therapeutischen Seite – wandeln sich auch die Patienten?

Patienten werden immer digitaler, in anderen Branchen leben sie längst schon deutlich mehr in der Online- als als in Offline-Welt. Neben den Übungsvideos gibt es in unserem Programm die Möglichkeit, dem Patienten Informationen oder Edukationsunterlagen mit an die Hand zu geben. Erhält ein Patient beim Verlassen der Praxis solche Hilfen, noch dazu in fachlich prägnanter, anschaulicher Form, wird das bereits heute von diesen sehr geschätzt. Wir als Therapeuten vermitteln unseren Patienten Wissen, um bei ihnen ein besseres Verständnis des eigenen Beschwerdebildes zu erlangen. Beispielsweise ein PDF, das beschreibt, wie die Rehabilitationsphasen nach einer Kreuzbandoperation aussehen. Das kann ich an das Heimübungsprogramm anhängen und meinen Patienten mitgeben.

Weil ein gut unterrichteter Patient auch aktiver ist?

Ganz genau. Da sehe ich die richtig große Chance der Digitalisierung: aus meinem Patienten einen aktiveren Patienten zu machen. Aktiver sowohl im Sinne von mehr körperlicher Aktivität und gezielten Übungen als auch aktiver im Sinne von Aktivität, die Patienten in ihren eigenen Behandlungsverlauf und in ihren eigenen Genesungsprozess mit einbringen. Und ich denke, das ist die Chance von Digitalisierung: unsere Patienten stärker zu aktivieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Reinhild Karasek.


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